Vor 100 Jahren am Landeplatz der Arche

Am Donnerstag, den 13. Mai 1909 bestieg die englische Forschungsreisende Gertrude Bell zusammen mit ihren Begleitern den Berg Cudi, der sich nördlich des mesopotamischen Tieflands, jenseits des Tigris im Südosten der heutigen Türkei erhebt. Dieser Berg gilt vielen Moslems, aber auch christlichen Gruppierungen in der Gegend, als der Berg Noahs. Hier soll nach der Sintflut die Arche gelandet sein! Die Provinzhauptstadt Sirnak trägt in ihrem Wappen den Berg, zwischen dessen Gipfeln die Arche liegt. Meine Nachforschungen in frühchristlichen, jüdischen und assyrischen Quellen haben ergeben, dass stärkere Argumente für den Berg Cudi sprechen, als für den berühmten Ararat. Dies würde nicht der Bibel widersprechen, wenn man die Bezeichnung »Ararat« mit dem antiken Gebiet Urartu gleichsetzt, das sich über ein Gebiet erstreckte, zu dem auch der Cudi gehört.

Gertrude Bell schrieb vor 100 Jahren in ihr Tagebuch: »Um 4 Uhr morgens ging es los […] Auf zum Cudi Dagh! Wir wanderten ungefähr zweieinhalb Stunden aufwärts durch Eichenwälder entlang der oberen Berghänge, unterhalb steiler Klippen. Dann kletterte ich aufwärts und alpines Hochland mit Schneekränzen breitete sich vor mir aus, darüber ein hoher felsiger Gipfel. […] Am Fuß der Felsklippen ließen wir den Esel mit Mejid zurück und kletterten eine halbe Stunde lang zur Sefinah hinauf, die wir um 8:35 Uhr erreichten. Scharlachrote Tulpen, immer noch in voller Blüte, umgaben sie.«

Gertrude Bell fährt fort: »Eine stattliche Ruine: grobe Kammern, überdacht mit Ästen und dünnen Baumstämmen, dazu ein Wasserbehälter weiter unterhalb bei einem Schneekranz. Eines der Gebäude besteht aus sehr großen Steinblöcken und scheint sehr alt zu sein. Ein wenig unterhalb – südlich – sind weitere Ruinen auf einem Plateau: möglicherweise die Grundmauern des alten Klosters. Das Gebäude hier besteht aus einem offen ummauerten runden Platz mit einigen Kammern ohne Dach zum Westen hin. Ich denke, es ist moslemischen Ursprungs.«

Sefinah: eine – inzwischen weiter verfallene – Ruine auf dem Gipfel des Berges Cudi.

In ihrem Buch »From Amurath to Amurath«, das nur in englischer Sprache erhältlich ist, erläuterte sie noch einige Hintergründe: So habe auf dem Gipfel einst ein berühmtes nestorianisches Kloster gestanden, das im Jahr 766 durch einen Blitzschlag zerstört wurde. Auf seinen Ruinen sei eine Moschee gebaut worden, die ebenfalls zerfallen ist.

Inzwischen – und vor allem während der Euphorie von abenteuerlichen Ararat-Expeditionen – ist der Berg Cudi nahezu vergessen. Während 1744 Siegmund Jacob Baumgarten noch »Eine Untersuchung von der Lage des Gebirges Ararat und den mancherley Meinungen darüber« veröffentlichte, ist gegenwärtig nur noch der über 5000 Meter hohe Große Ararat an der Grenze zwischen der Türkei und Armenien im Gespräch. Allerdings wird heute natürlich von den meisten Menschen der Gedanke an eine biblische Sintflut als historisch bedeutungslos verworfen.

1953 hat der deutsche Geologe Dr. Friedrich Bender auf dem Gipfel Holzfragmente ausgegraben, die mit einer »asphaltartigen Substanz verkittet« waren. Eine C-14-Datierung hat ein Alter von 6650 Jahren ergeben! Überbleibsel der Arche Noah?

Einige wenige weitere Menschen waren seither auf dem Berg, darunter zwei deutsche Journalisten, ein türkischer Prähistoriker und – kurdische Freiheitskämpfer, die aktuellere Fotos der Ruinen im Internet veröffentlicht haben. Der Berg ist im Brennpunkt der Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der »Arbeiterpartei Kurdistans« (PKK), somit sind wissenschaftliche Nachforschungen vor Ort im Moment nicht vorstellbar.

In Google Earth ist immerhin eine virtuelle Expedition möglich: An den Koordinaten 37.3670N, 42.4951E habe ich den Gipfel des Cudi und damit den wahrscheinlichen Landeplatz der Arche identifiziert. Die dort vorhandenen Wolken kann man »beiseite schieben«, indem man den Zeitschieberegler auf 2006 einstellt.

Die Begleiter von Gertrude Bell auf dem Gipfel des Berges Cudi.

© 8. Mai 2009, Timo Roller